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Chance auf Koexistenz oder "Früchte des 7. Oktobers"? Alles zur Anerkennung Palästinas
- Veröffentlicht: 05.08.2025
- 15:14 Uhr
- Christopher Schmitt
Frankreich hat den ersten Schritt gemacht - andere Länder zogen nach: Doch was bedeutet die Anerkennung eines palästinensischen Staates überhaupt? Ein Überblick unter Berücksichtigung der neusten Entwicklungen in Nahost.
Inhalt
- Welche Staaten wollen Palästina aktuell anerkennen?
- Welche Forderungen werden gestellt?
- Welche Folgen hätte eine Anerkennung?
- Wie fallen die Reaktionen aus Israel aus?
- Wie reagiert die Terrororganisation Hamas?
- Was sagt die Palästinensische Autonomiebehörde?
- Wie steht Deutschland zu einer Anerkennung?
- Welche Länder haben Palästina (nicht) anerkannt?
- Wie sähe ein palästinensischer Staat aus?
- Warum wird die Zweistaatenlösung teils abgelehnt?
- Was macht ein Gebiet zum Staat?
Seit Jahrzehnten ist die Zweistaatenlösung in Nahost - eine friedliche Koexistenz der Staaten Israel und Palästina - das angestrebte Ziel eines Großteils der Weltgemeinschaft. Nach dem Massaker des 7. Oktobers durch palästinensische Terrorgruppen samt brutaler Geiselnahme und Israels rücksichtslosem Krieg im Gazastreifen, der in eine Hungerkrise mündete, scheint das Ziel soweit entfernt wie noch nie. Aus diesem Grund sah sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zum Handeln gedrängt: "Frieden ist möglich", schrieb Macron auf X. Er will einen souveränen Staat der Palästinenser:innen anerkennen - weitere Länder wollen seinem Beispiel folgen.
Längst hat ein Kampf um die Deutungshoheit der geplanten Anerkennung begonnen. Wie die "Times of Israel" berichtet, hat Ghazi Hamad, ein hochrangiges Mitglied des Hamas-Politbüros den diplomatischen Schachzug als "Früchte des 7. Oktobers" bezeichnet - und drückt sich damit ähnlich aus wie die rechtsreligiöse israelische Regierung. Medienberichten zufolge will Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu nun den ganzen Gazastreifen besetzen - trotz vehementer Kritik aus der eigenen Armee.
Vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse im Nahen Osten stellt sich einmal mehr die Frage, was eine Anerkennung Palästinas überhaupt bedeuten würde - diplomatisch, politisch und nicht zuletzt symbolisch. Wie ist die Haltung weltweit zu einem Staat Palästina? Wie könnte er aussehen? Und wie positioniert sich Deutschland? Ein Überblick.
Welche Staaten wollen Palästina aktuell anerkennen?
Frankreich wird nach den Worten seines Präsidenten Emmanuel Macron Palästina als Staat anerkennen. "Ich werde dies im September dieses Jahres vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen feierlich verkünden", hatte Macron auf der Plattform X mitgeteilt. Es liege an den Französ:innen, dies gemeinsam mit den Israelis, den Palästinenser:innen, den europäischen und internationalen Partnern zu zeigen. Macron schrieb, dass die Lebensfähigkeit eines Staates Palästina gesichert werden müsse: "Es gibt keine Alternative."
Als weiteres G7-Land schloss sich Kanada Frankreich an. "Kanada beabsichtigt, den Staat Palästina in der 80. Sitzung der UN-Vollversammlung im September 2025 anzuerkennen", sagte Ministerpräsident Mark Carney. Er begründete den Schritt mit zunehmend schlechteren Aussichten auf eine Zweistaatenlösung in Nahost und prangerte die Lage im Westjordanland sowie die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen an. Auf Nachfrage stellte Carney klar, dass es sich um eine Absichtserklärung seiner Regierung handle. Theoretisch sei ein Szenario möglich, dass er seine Entscheidung wieder zurücknehme, auch wenn er sich das zurzeit nicht vorstellen könne, sagte Carney.
Wie Frankreich könnte auch Großbritannien Palästina als Staat anerkennen. Man werde dies laut Premierminister Keir Starmer Ende September vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen tun, sofern die israelische Regierung nicht wesentliche Schritte unternehme.
Welche Forderungen werden gestellt?
Mit der Ankündigung einer Anerkennung soll der Druck auf Israel erhöht werden, den Krieg im Gazastreifen zu beenden - doch auch an die palästinensische Seite werden klare Bedingungen gestellt, wie die Deutsche Presse-Agentur (dpa) berichtet. Macron betonte in seinem Post, dass ein Kriegsende dringend notwendig sei und der palästinensischen Zivilbevölkerung Hilfe geleistet werden müsse. Außerdem müssten alle israelischen Geiseln freigelassen werden und die Entmilitarisierung der Hamas gesichert werden, betonte der französische Präsident.
Der britische Premier Keir Starmer forderte die israelische Regierung auf, die "entsetzliche Situation im Gazastreifen" zu beenden und sich zu einem langfristigen, nachhaltigen Frieden zu bekennen. Zu diesen Schritten zähle unter anderem, den Vereinten Nationen zu gestatten, die Versorgung der Bevölkerung im Gazastreifen mit humanitärer Hilfe zur Beendigung des Hungers unverzüglich wiederaufzunehmen, hieß es in einer Mitteilung aus der Downing Street. Außerdem müsse Israel einer Waffenruhe zustimmen und klarstellen, dass es keine Annexionen im Westjordanland geben werde.
Allerdings sagte Premier Starmer in einer Kabinettssitzung auch, dass die Forderungen an die islamistische Hamas bestehen blieben: Die Hamas müsse alle Geiseln freilassen, ebenfalls einer Waffenruhe zustimmen, akzeptieren, dass sie keine Rolle beim Regieren des Gazastreifens spielen werde und ihre Waffen niederlegen. Im Vorfeld der UN-Generalversammlung werde man dann beurteilen, inwieweit die Parteien die Schritte umgesetzt hätten, sagte Starmer. Danach werde man eine finale Entscheidung treffen.
Fakt ist: Die Geiseln sind bislang nicht frei - erst kürzlich veröffentlichten die Islamisten ein Video mit abgemagerten und gedemütigten Israelis - und die Hamas knüpft nach eigenen Angaben die Niederlegung der Waffen ihrerseits an einen vollständig souveränen Palästinenserstaat. Hauptstadt solle das umstrittene Jerusalem sein, das auch Israel als Hauptstadt beansprucht. Angesichts der kolportierten Pläne Netanjahus, den Gazastreifen komplett einnehmen zu wollen, wären auch die Forderungen an Israel nicht erfüllt - im Gegenteil. London müsste wohl erneut abwägen.
Zugleich machte die Downing Street aber auch deutlich, dass eine Anerkennung eines Staates Palästina allein die Situation vor Ort nicht ändern werde.
Welche Folgen hätte eine Anerkennung?
Der "Deutschlandfunk" berichet, eine Anerkennung Palästinas hätte aus völkerrechtlicher Sicht keine Auswirkungen. ZDF-Recherchen zufolge erhalten die Palästinensergebiete nicht mehr Geld oder weitreichendere Gebietsansprüche. Somit lässt sie sich als symbolischen Akt bewerten. Dieser Wiederum könnte durchaus konkrete Folgen haben und eine Dynamik lostreten.
Wie fallen die Reaktionen aus Israel aus?
Neben der rechts-religiösen Regierung Israels lehnt auch Oppositionsführer Jair Lapid Macrons Vorstoß entschieden ab. Regierungschef Benjamin Netanjahu sieht darin eine "Belohnung" für den Terror der Hamas. Zudem riskiere dies die Schaffung eines iranischen Stellvertreterstaat, wie es der Gazastreifen unter der Hamas geworden sei. "Ein palästinensischer Staat unter diesen Bedingungen wäre eine Startrampe zur Vernichtung Israels." Israels Außenminister Gideon Saar reagierte auf der Plattform X. "Ein palästinensischer Staat wird ein Hamas-Staat sein."
Externer Inhalt
Wie reagiert die Terrororganisation Hamas?
"Wir betrachten dies als einen positiven Schritt in die richtige Richtung, um unserem unterdrückten palästinensischen Volk Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und sein legitimes Recht auf Selbstbestimmung zu unterstützen", teilte die Hamas mit Blick auf Macrons Schritt mit - und rief weitere Länder auf, dem Beispiel Frankreichs zu folgen.
"Die Früchte des 7. Oktober haben dazu geführt, dass die ganze Welt ihre Augen für die palästinensische Frage geöffnet hat", erkärte zudem Ghazi Hamad vom Politbüro der Hamas gegenüber "Al Jazeera". Nun bewege sich die mit Nachdruck auf dieses Ziel zu. "Das heißt, dass das palästinensische Volk ein Volk ist, das ein Land verdient."
Was sagt die Palästinensische Autonomiebehörde?
Die Palästinensische Autonomieverwaltung (PA) hat Macrons Ankündigung, Palästina als Staat anerkennen zu wollen, begrüßt. Dies bestätige, dass sich Frankreich dem internationalen Recht verpflichtet fühle, sagte PA-Vizepräsident Hussein al-Scheich nach Angaben der palästinensischen Nachrichtenagentur Wafa. Paris unterstütze damit das Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung und auf einen eigenen Staat, fügte er hinzu.
Wie steht Deutschland zu einer Anerkennung?
Für Deutschland ist eine Anerkennung Palästinas aktuell keine Option. Die Bundesregierung sehe die Anerkennung "als einen der abschließenden Schritte" auf dem Weg zu einer Zweistaatenlösung, sagte Regierungssprecher Stefan Kornelius. Außenminister Johann Wadephul drängt auf die Freilassung der Geiseln und ein Ende des Gaza-Kriegs und warnt vor einer Isolation Israels.
Deutschland fühlt sich vor dem Hintergrund des Holocaust dem Existenzrecht Israels in besonderer Weise verpflichtet. Es erkennt aber gleichzeitig an, dass die Palästinenser:innen auf der Grundlage des in der Charta der Vereinten Nationen verbrieften Selbstbestimmungsrecht der Völker einen eigenen Staat für sich in Anspruch nehmen.
Welche Länder haben Palästina (nicht) anerkannt?
Insgesamt 148 der 193 UN-Mitgliedstaaten haben Palästina bereits als Staat anerkannt - die angekündigten Anerkennungen nicht mitgezählt. Hierzu zählt der Großteil der Staaten in Lateinamerika, Afrika und Asien, unter anderem auch China und Russland. Außereuropäische Ausnahmen stellen Japan und Australien dar, die den möglichen Staat bislang nicht anerkennen.
Einflussreiche westliche Länder wie UN-Vetomacht USA gehören ebenfalls nicht dazu. Mit dem Vorstoß Frankreichs und Großbritanniens könnte sich dies jedoch bald ändern. Bereits im vergangenen Jahr waren mit den EU-Staaten Spanien, Irland und Slowenien sowie Norwegen bereits diesen Schritt gegangen. Neben Deutschland wird Palästina nach aktuellem Stand auch von Österreich und der Schweiz, Italien, Griechenland, Portugal und Finnland nicht anerkannt.
Wie sähe ein palästinensischer Staat aus?
Wahrscheinlich bestünde ein souveränes Palästina aus zwei Teilen bestehen: dem Westjordanland unter der Fatah vom Chef der Autonomiebehörde Mahmud Abbas sowie dem Gazastreifen, der von der Hamas kontrolliert wird. Problematisch bleibt, dass die Grenzen zwischen Israel und den Palästinensergebieten nicht abschließend geklärt sind - ebenso wie der Status von Ost-Jerusalem.
Zudem sind Hamas und Fatah untereinander verfeindet, was die Frage nach dem entsprechenden Ansprechpartner aufwirft. Fast zwei Jahrzehnte ist die Wahl von Abbas mittlerweile her, die Autonomiebehörde wird von vielen Palästinenser:innen kritisch gesehen. Die Hamas ist als islamistische Terrororganisation weder für Israel noch für andere wichtige Nationen ein akzeptabler Verhandlungspartner - und durch den Gazakrieg obendrein geschwächt, wie der "Deutschlandfunk" berichtet.
Warum wird die Zweistaatenlösung teils abgelehnt?
Israels Regierung ist laut Deutscher Presse-Agentur gegen die Zweistaatenlösung, weil in ihr die Ansicht vorherrscht, dass das besetzte Westjordanland und Ost-Jerusalem aus historischen und religiösen Gründen Israel zustehen und von Juden bewohnt werden sollen.
Bei nicht religiösen Israelis überwiegen Sicherheitsbedenken: Ein palästinensischer Staat, der in der Mitte Jerusalems beginnt und an manchen Stellen recht nah an die Metropolen Tel Aviv und Haifa heranreicht, gilt aus ihrer Sicht als ein inakzeptables militärisches Risiko.
Auch die Hamas lehnt eine Zweistaatenlösung ab. Sie beansprucht langfristig das gesamte historische Palästina - also einschließlich des heutigen Staatsgebietes Israels - für einen künftigen palästinensischen Staat. In einem Grundsatzpapier aus dem Jahr 2017 akzeptiert sie einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 - das heißt bestehend aus dem Westjordanland, dem Gazastreifen und Ost-Jerusalem - als "Zwischenschritt", erkennt aber auch dabei das Existenzrecht Israels nicht explizit an.
Was macht ein Gebiet zum Staat?
Juristisch wird ein Staat über drei Elemente definiert: Staatsvolk, Staatsterritorium und Staatsgewalt. Diese Kriterien greift auch die völkerrechtliche Montevideo-Konvention von 1933 auf. Demnach muss ein Staat eine ständige Bevölkerung, ein Staatsgebiet, eine Regierung und die Fähigkeit zu Beziehungen mit anderen Staaten haben. Die Anerkennung durch andere Staaten gilt hingegen als nicht notwendig. Inwieweit die palästinensischen Gebiete diese Kriterien erfüllen, wird schon lange kontrovers diskutiert. Die Diskussionen werden anhalten.
- Verwendete Quellen
- "The Times of Israel": "Hamas leader: Nations are recognizing Palestinian state due to 'fruits of October 7'"
- Nachrichtenagentur dpa
- "Deutschlandfunk": "Was die Anerkennung Palästinas bedeutet"
- ntv: "Hamas lobt Macron - 'Schritt in richtige Richtung'"
- ZDF: Staat Palästina: Was die Anerkennung bedeutet
- "Zeit": "Welche Länder Palästina als Staat anerkennen"
- "Jüdische Allgemeine": "Hamas: Ohne Staat Palästina kein Ende der Kämpfe"